kurzgeschichten von tommiboe
Frau mit Vogel
Frau mit Vogel
(Guatemala 2008)
Gegenüber auf der anderen Straßenseite stand eine Frau und winkte mir mit beiden Armen zu. Eine großangelegte Geste, die mir galt…? Wer war diese Frau? Was wollte sie? – Ich blickte mich sicherheitshalber um. Und, ja, was wollte sie von mir?
Jetzt, da ich sie bemerkt hatte, fuchtelte sie noch ein wenig wilder. Ja, sie meinte eindeutig mich! Ich solle ihr bitte zu ihr kommen, sie brauche meine Hilfe! rief sie auf Englisch, genauer gesagt, sogar ziemlich Amerikanisch.
Eine kleine, dickliche Amerikanerin, allein um Hilfe bittend auf einer guatemaltekischen Straße… Mein Pfadfinderherz war aktiviert. Ich wechselte die Straßenseite. Lächelnd begrüßte sie mich. „Sie müssen mir helfen, mein Vogel sitzt da im Baum!“ – „Ihr Vogel…?!“ – Eine amerikanische Touristin hatte ihren Vogel in einem guatemaltekischen Baum sitzen? „Ja, dort sitzt er! Ich wollte ihn freilassen!“ – „What?!“ Ich hoffte, etwas falsch verstanden zu haben. Aber nein! Sie hatte eine Taube in einem Geschäft gekauft, um sie freizulassen. Mir stand ein großflächiges „Hä?!“ ins Gesicht gemeißelt. War die noch ganz dicht? – Das mache man so! sagte sie belehrend und sah mich ernst an. „Who?“ entgegnete ich. Who um alles in der Welt mache so etwas? – Das sei durchaus üblich so. Sie mache das auf jeder Reise. „Und andere übrigens auch!“ Wie sie noch schnell hinzufügte. – Ja, neh, sicher! Natürlich! Ich sonst ja auch…
Naja, wie auch immer. „Aber dann ist doch alles bestens! Der Vogel sitzt in Freiheit…“ – „Nein, gar nichts ist gut! Der Vogel fliegt nicht. Wir müssen etwas tun!“ – Ihm fliegen beibringen…? schoss mir durch den Kopf. Und wieso überhaupt „wir“? – „Wir müssen ihn wieder einfangen!“ – Aha! Der Sachverhalt war doch ganz klar. Der Vogel konnte nicht richtig fliegen, war also nicht überlebensfähig, der harten guatemaltekischen Wirklichkeit nicht gewachsen. Das ganze gutgemeinte Prinzip des Freilassens funktionierte so natürlich nicht mehr, wenn Freilassen plötzlich Verrecken bedeutete. Das leuchtete ein. Also musste der Vogel eingefangen und zurück in den Vogelladen gebracht werden, wo man sich adäquat und professionell um diesen flugunfähigen Vogel kümmern sollte.
Die Taube selbst saß gleichgültig und bewegungslos auf einem Ast, während um uns herum bereits einige Passanten stehen geblieben waren, die uns, die Frau, mich und den Vogel, beobachteten.
Meine Aufgabe sollte es nun sein, den Vogel zu schnappen. Die Frau selbst war zu klein, zu ungelenk und viel zu aufgeregt dafür. Sie versuchte, den Vogel mittels „Guzzi-guzzi“-Lauten abzulenken, während ich mich aus dem Vogelrücken heraus an den Baum heranpirschte. Und es klappte auch ganz gut – eigentlich. Also fast ganz gut, um es genau zu sagen. Denn der Vogel ließ sich hervorragend ablenken und mir gelang es auch, den Vogel an den Schwanzfedern zu fassen. Allerdings war das flugunfähige Vieh doch agil genug, um sich wieder loszureißen, was mehrere Folgen hatte. Erstens fingen die umstehenden Zuschauer zu kichern an, zweitens verlor die Taube eine Handvoll Schwanzfedern an mich und drittens kassierte ich einen strengen, vorwurfsvollen Blick der amerikanischen Vogelmutter.
Der Vogel hatte sich mit ein paar notdürftigen Flügelschlägen auf einen Nachbarzweig gerettet. „Du solltest ihn fangen und ihm nicht die Federn ausreißen!“ – „Ich hab doch versucht, ihn zu fangen!“ – „Aber doch nicht so!“ – Aha! Wenn sie besser ausgebildet war, bitteschön!
Weitere Passanten blieben stehen. Vor dem zweiten Versuch bekam ich neben Taubenmamas Anweisungen auch noch Ratschläge eines guatemaltekischen Vogelfangexperten. Ich sollte die Taube genau so fangen wie ein Huhn! – Richtig, muchas gracias auch noch mal!
Zweiter Anlauf: Wiederum Guzzi-guzzi und vorsichtiges Anschleichen. Da der zweite Ast ein wenig höher hing, musste ich mich auf Zehenspitzen anpirschen. Das Gekichere der Zuschauer war dieses Mal schon ein bisschen lauter. Der Hühnerfanggriff funktionierte – beinahe. Auch dieses Mal flatterte sich die Taube frei und schaffte es sogar auf ein benachbartes Hausdach. Ein Raunen ging durchs Publikum wie nach einer vergebenen Großchance im Fußballstadion.
Zu meiner eigenen Enttäuschung gesellte sich der vernichtende Blick der Vogelmama, in dem – ohne Übersetzungsverluste – ein international gültiges „Du kannst ja wohl gar nichts!“ mitschwang. – „Immerhin kann die Taube wieder fliegen!“ versuchte ich den zornigen Blick ein wenig aufzuweichen. „La paloma puede volar!“ übersetzte ich noch schnell, um wenigstens das einheimische Publikum auf meine Seite zu ziehen.
„Es sieht nicht so aus, als könne er für sich alleine sorgen!“ stellte die allwissende Vogelmama fest. Ich wähnte mich schon die Fassade hochklettern, als mein Blick auf eine Tüte Vogelfutter fiel, die am Baumstamm lag. „Er muss sich nur ein wenig stärken und erholen. Und dann wird das schon wieder!“
Glücklicherweise sah sie ein, dass uns keine andere Wahl blieb. Sie nahm die Tüte und warf eine Handvoll Futter ungelenk gegen die Hauswand, was zu spontanem Gelächter sowie vergnügtem Händeklatschen führte. Sie warf noch eine Handvoll gegen die Wand und einen wütenden Blick auf die amüsierten Umstehenden. Dann nahm ich ihr die Tüte ab und schleuderte eine Futterration zielgenau aufs Dach direkt neben die Taube. Wenigstens das hatte geklappt!
Ich verabschiedete mich von der Vogelmutter, ihrem Vogel und dem ausgezeichneten Publikum. Sie blieb noch, um ihrem Vogel ein wenig Gesellschaft zu leisten, und ich ging mit dem Gefühl, zumindest den Einheimischen eine gute Show geboten zu haben.
Der Besteck-Nazi
Der Besteck-Nazi
Schon ein paar Wochen vor unserem Klobürstendrama hatten wir mal wieder eine solcher WG-Sitzungen gehabt, in der über gemeinsame Aktionen, Anschaffungen oder natürlich über WG-interne Probleme gesprochen wurde. Meist wurde lediglich zusammen gegessen, Wein getrunken und locker über dies und das geschwätzt. Es sei denn es gab wichtige Themen.
Aber dieses Mal – Manuel sei Dank – hatten wir ein richtiges Thema. Er räusperte sich: „Also, wir brauchen dringend ein Ordnungssystem für das Besteckfach der Spülmaschine!“ – Wow! – Wie hatten wir ohne leben können?! fragte ich mich. – Augenblicklich herrschte absolute Stille in unserer Küche. Kein Kauen, Schmatzen, Schlucken – kein Atemzug! Ein paar Zikaden in der Ferne. Sonst nichts!
Mein Mitbewohner Chris suchte verzweifelt meinen helfenden Blick. Denn wie sollte man adäquat auf so etwas reagieren? Gab es ein Verhaltenshandbuch für solche Situationen? Es gab doch Ratgeber für jeden Scheiß! Gab es bereits einen Ratgeber mit dem Titel: „Wie gehe ich mit meinem Mitbewohner um, der ein Ordnungssystem für das Besteckfach der Spülmaschine braucht“? Oder gab es eine Telefonhotline des psychologischen WG-Beratungsdienstes?
Chris’ Blick fand den meinen und wir prusteten zeitgleich los. Manuels Miene verfinsterte sich. „Ich meine das völlig ernst! Es ist jedes Mal totales Chaos im Besteckfach …!“ Aber weiter kam er nicht. Denn unser Lachen wuchs sich weiter aus und auch Bettina hatte schon schwer mit sich zu kämpfen. – Wer allerdings vermutet, Manuel hätte sich womöglich durch unsere Heiterkeit anstecken oder ablenken lassen und erkannte, wie absurd seine Äußerung auf einen normalen Menschen / WG-Bewohner wirken musste, der kannte Manuel schlecht. Denn jetzt wurde er erst so richtig fuchsig!
„Ja, ist schon klar, dass Ihr Euch über alles lustig macht, wenn man mal einen konstruktiven Verbesserungsvorschlag macht!“ Ich versuchte, gleichmäßig in den Bauch zu atmen, um mich zu beruhigen. – „Wo ist denn überhaupt das Problem?“ fragte Jan schließlich in die Stille. „Wo das Problem ist?! Das kann ich genau sagen!“ Chris hatte inzwischen einen knallroten Kopf und ich hatte ein bisschen Angst um ihn, dass er ersticken könnte, weil er seit geraumer Zeit in eine Brötchentüte atmete. „Ich ordne nämlich das Besteck beim Einräumen in die unterschiedlichen Fächer ein. Die großen Löffel kommen in das eine Fach, die kleinen in ein anderes und so auch die Messer, Gabeln und das sonstige Küchengerät wiederum in ein eigenes Fach!“ – Aha! Mir fehlte noch immer die Handlungs- und Bewusstseinsebene, auf der ich Manuel angemessen begegnen konnte.
Bettina hielt den Austausch am Leben: „Und warum machst du das?“ Ja, genau, das war doch mal eine gute Frage… „Warum?! – Weil ich dann beim Ausräumen alle Löffel, Messer und Gabeln mit einer Handbewegung direkt einsortieren kann!“
„Das hat man davon, wenn man Beamte Kinder machen lässt!“ dachte ich für mich. Jedenfalls dachte ich, dass ich es nur für mich gedacht hatte. Aber aufgrund der versammelten Blicke, die mich trafen, hatte ich es wohl laut genug für alle Beteiligten gedacht. Mit einem lauten Bums platzte die Brötchentüte vor Chris‘ Gesicht.
Dabei lag ich mit meiner Unterstellung vollkommen verkehrt. Denn Manuels Vater war kein Beamter. Er war sogar ein erstaunlich entspannter und lustiger Typ, den ich kurz bei Manuels Einzug kennengelernt hatte. Er entsprach also eher dem Gegenteil des Beamtenklischees und auch des Verhaltens seines Sohnes Manuel. – Aber mit meiner Fehlinterpretation saß ich einfach einem übergeordneten Irrtum auf. Schließlich hatten es die 68er ja schrecklich einfach gehabt. Was waren das für herrliche Bedingungen gewesen! Die gesellschaftlichen Verhältnisse konnten gar nicht geeigneter sein, um mit Krach und Getöse gegen das Spießertum anzugehen. Was war das für eine Vorlage für junge, ambitionierte Steinewerfer. Man muss einfach von einer extrem putschfreundlichen Gesamtsituation sprechen.
Aber wie sollte man sich gegenüber Revolutionären verhalten? Was machte man, wenn die Revolution schon gelutscht und Laios schon ermordet worden war? Die Generation nach der Revolution war dahingehend die tote Generation. Denn alle Brandsätze waren geschmissen, alle Molotowcocktails geraucht und alle Sitzblockaden längst abgesessen. Schließlich konnte man nur stehende Mauern umschubsen! Aber was passierte danach…?
Danach wurde gegen die Rebellion rebelliert! Was blieb unserem armen Manuel anderes übrig? Er sehnte sich nach Disziplin und Ordnung. Das war sein persönlicher Vatermord!
Währenddessen hatten sich die Blicke Chris zugewendet, der sichtlich geschockt auf die Reste seiner geplatzten Brötchentüte starrte. Er zitterte sogar regelrecht. Und dann warf er Manuel einen so finsteren Blick zu, wie ich es noch nie von ihm gesehen hatte: „Du verschissener Besteck-Nazi! Ist dir klar, dass mir deinetwegen fast die Fresse explodiert wäre…?! – Wegen so einem Scheiß!“
Schöner Einwand! So kann man auch mal ganz sauber und sachlich ein überflüssiges Thema beenden!
Bächarschmand
Bächarschmand

Der Zyklopenarsch
Die Zyklopenarschtheorie
Für die nun folgende Theorie verlange ich von Ihnen zuerst eine ordentliche Portion Phantasie und später womöglich ein wenig Toleranz.
Beginnen wir mit der Phantasiephase: Stellen Sie sich einmal vor, Sie seien eine außerirdische Lebensform, die zufällig auf der Erde vorbeikommt. Die Gründe spielen keine Rolle: Bildungsreise, Navi versagt, Last-Minute-Angebot, Sex- oder Katastrophentourismus… völlig egal!
Stellen Sie sich des Weiteren vor, dass Sie nichts Wesentliches über die Menschheit wissen. Ach ja, ein bisschen über die griechische Mythologie könnte vielleicht nicht schaden. Ansonsten Sie sind völlig unvoreingenommen und vorurteilsfrei.
Und jetzt werde ich Ihnen, als vorurteilsfreiem, nichts über die Menschheit wissendem Außerirdischen mit Grundkenntnissen in der griechischen Mythologie, folgendes Szenario schildern. Und im Anschluss daran werde ich Ihnen eine einzige Frage stellen, auf die Sie dann, ohne lange zu überlegen, mit einer einzelnen Zahl antworten müssen. Es wird sich dabei um keine hohe Zahl handeln, keine Kommastellen… Keine Angst, Sie werden sich nicht blamieren. Einziges Problem: Sie müssen ganz ehrlich sein!
Es ist ein Sommertag auf dem Planeten Erde. Sie sind gerade mit Ihrem Shuttle gelandet und betrachten aus einem sicheren Versteck menschliche Wesen, die Sie bisher nur aus Ihrem Reiseführer kennen und aus den griechischen Sagen natürlich.
Aufgrund Ihrer Erfahrung mit anderen Lebensformen gelingt es Ihnen unterschiedliche Geschlechter auszumachen und Sie konzentrieren sich jetzt auf die Weibchen, die an Ihnen vorbeigehen. Da Sie eine neugierige Spezies sind, betrachten Sie die ungewöhnlichen menschlichen Formen – von vorne, von der Seite und auch von hinten. Beim Hinterherblicken stellen Sie fest, dass einige Weibchen dazu neigen, merkwürdige beinlose Kleidungsstücke zu tragen, die Sie von Ihrem Planeten nicht kennen.
Nun müssen Sie sich stark konzentrieren. Sie zoomen nah heran an dieses Kleidungsstück und stellen sich vor, dass es sich bei diesem Kleidungsstück um einen Jeansrock handelt. Knifflig… Woher sollen Sie als Außerirdischer wissen, was ein Jeansrock ist?
Ich weiß. Das klingt im ersten Moment nach einem gewissen Widerspruch. Sie müssen jetzt ganz kurz auf ihre menschliche Matrix zurückgreifen, Ihre Bilddatenbank öffnen, ein entsprechendes Bild kopieren und auf Ihre imaginäre Leinwand projizieren, die Sie sich nun wiederum als Außerirdischer anschauen können. Klar? – Das klingt für Sie als Mensch womöglich komplizierter, als es ist, denn zum Glück ist es für Sie als Außerirdischen technisch betrachtet quasi ein Außerirdischen-Kinderspiel, also überhaupt kein Problem, diesen Zugriff auf Ihr menschliches Wirtshirn zu realisieren. „Prism“ ist ein Fliegenschiss gegen Ihr außerirdisches Hackervermögen.
Sie sehen jetzt deutlich diese Frau in einem Jeansrock – von hinten! Konzentrieren Sie sich auf diesen Anblick. Denn wir kommen dem entscheidenden Moment näher. Gleich wird die Frage kommen, die Sie als unvoreingenommener Außerirdischer mit wenig Wissen über die menschliche Physiognomie spontan und ehrlich beantworten sollen.
Konzentrieren Sie sich! Haben Sie jetzt die Silhouette eines Jeansrockes auf ihre innere Leinwand gebrannt? Fokussieren Sie! Die Frage an Sie als Außerirdischen lautet: Wie viele Pobacken hat dieses Wesen? Und Ihre Antwort muss „Eine!“ lauten. Richtig! Mit einem selbstverständlichen Schulterzucken: „Natürlich eine! Wie viele denn sonst?“ Denn schauen Sie sich doch mal diese Hinternform an, wie sie sich in diesem Jeansrock präsentiert! Deutlich sehen Sie diese einheitliche Fläche – ohne wesentliche Konturen – ohne Senkungen zwischen links und rechts… Das, was dort in diesem Jeansrock wohnt, das ist ein einziges Wesen.
Und Sie erinnern sich noch gut an Ihren frühkindlichen Mythologieunterricht und daher vermuten Sie, worum es sich bei diesem Wesen handeln könnte… Nein, Sie sind sich sicher, worum es sich bei diesem Wesen handeln muss: um einen Zyklopenarsch!
Nun kommen wir zur Toleranzphase: Die Zyklopenarschtheorie mag im ersten Moment sexistisch oder frauenfeindlich klingen. Aber das ist sie gar nicht. In erster Linie ist sie nicht frauen- sondern jeansrockfeindlich. Das gebe ich zu! Aber das soll sie auch sein. Zurecht ist sie jeansrockfeindlich! Und ich gehe noch weiter: Jeder Frauenhintern sollte einen Jeansrock als seinen natürlichen Intimfeind betrachten. Denn es ist doch schrecklich und zutiefst bedauerns- und beklagenswert, was Jeansröcke etwas derart Attraktivem wie einem Frauenhintern antun können. Und die betroffenen Hintern, über die ich hier rede, sind hübsche, wohlgeformte, mitunter knackige Exemplare, ursprünglich bestehend aus zwei (!) Pobacken, die wie Ying und Yang nur gemeinsam ein sinnvolles Ganzes ergeben.
Und Frauen sollen ruhig weiterhin sagen: „Aber so ein Jeansrock ist total praktisch!“ Und ich zeige mich tolerant. Sollen sie das hundert Mal sagen. Und ich werde hundert Mal antworten: „Aber es sieht scheiße aus!“ – Ohh! Buhh! Böser Mann! – Aber das ist doch Blödsinn. Ich will den Frauen gar nichts Böses – im Gegenteil. Mit der Zyklopenarschtheorie geht es doch um Aufklärung. Ich möchte die Welt verbessern und sie nachhaltig von Jeansröcken befreien.
Klobuerste
Der Tag, an dem mir beinahe der Kopf abgerissen wurde
Oder einfach: Die neue Klobürste!
Während meines Studiums wohnte ich eine Zeitlang in einer 7er-WG, was man sich wie das Leben in einer sonstigen WG vorstellen kann – nur schlimmer! Schlimmer durchaus auch im positiven Sinne. Denn es war immer etwas los. Irgendjemand hatte immer gerade etwas zu feiern, um Anlässe waren wir nie verlegen: Geburtstage, Besuche, bestandene Prüfungen, nicht bestandene Prüfungen, Semesterende, Semesteranfang, sogar christliche Feiertage wurden schamlos missbraucht… was auch immer!
Aber er war besonders im negativen Sinne schlimmer, weil es kaum bessere Gründe gibt, sich erfolgreich in die Haare zu geraten, als zusammenzuwohnen. Unterschiedlichste Interessen, (Ess-) Gewohnheiten, Hygienevorstellungen (, was oft auf dasselbe herauskommt), Haarlängen, (Musiklautstärken, Nachtaktivitätsgrade,) Urinierverhalten, ja gar Geschlechter prallen mitunter recht schwungvoll aufeinander. – Die charakteristische Diversität oder Artenvielfalt einer WG machen ihren Reiz, aber auch ihre Reibung aus. Penibel, pragmatisch, pubertär, gleichgültig, herrschsüchtig, zickig, beschwichtigend, provozierend, (stutenbissig) oder gar erzieherisch… Ein Molotovcocktail der Gefühle!
Die Sprengkraft dieser bunten Mischung steigt mit der Bewohnerzahl n, was ein mathematisches Phänomen ist, wie mir einer meiner Mitbewohner, ein Mathematikstudent, (einmal) vorgerechnet hatte. Allerdings steige diese Sprengkraft nicht unendlich, sondern sie kippe ab einer gewisse Zahl wieder ab. Er begründete dies so, dass die der Reibung zur Verfügung stehende Oberfläche einer jeden Person begrenzt sei. Das heißt, dass bei „n“ gleich 7 eine gewisse Sättigung eintrete und die anstehenden Konflikte nicht mehr optimal emotional ausgelebt werden könnten. Und damit sinke der PPSKK, der potenzielle Personensprengkraftkoeffizient. Aber genug dazu! Sollen sich damit unterbeschäftigte Mathematik-Nerds auseinandersetzen…!
Kommen wir zu dem Tag, an dem ich die potenzielle Sprengkraft unserer WG testete – mit maximalem Erfolg. Meine gute Tat des Tages war es gewesen, eine neue Klobürste für die WG zu besorgen. Unsere alte war – gelinde gesagt – ziemlich benutzt. – Als ich meinen Kauf im Klo austauschte, bemerkte ich, dass es sich bei der neuen und der alten um sehr ähnliche, kaum zu unterscheidende Modelle handelte. Und in diesem Moment ritt mich das Teufelchen! Eine kleine, aber gemeine Idee durchzuckte mein Gehirn und verlangte nach sofortiger Umsetzung, bevor irgendwelche Konsequenzen oder gar mögliche Personensprengkraftkoeffizienten ermittelt werden konnten.
Noch bevor mich ein Mitbewohner mit der neuen Bürste gesehen hatte, war ich in der Küche, hatte die Spülmaschine geöffnet, die neue Bürste im Geschirr platziert, die Maschine wieder geschlossen und den Spülvorgang gestartet. Pfeifend verließ ich die Wohnung und machte mich auf den Weg in die Uni.
Als ich abends nach Hause kam, brannte die Hütte! Die WG war vollzählig um den Küchentisch versammelt. Meine fröhliche Begrüßung löste eine neue Eiszeit aus, was in Zeiten der Klimaerwärmung womöglich eine metaphorische Fehlbesetzung ist. Aber jegliche Mimik um den Tisch war eingefroren. Nicht einmal Chris, dem eigentlich gar nichts zu peinlich oder zu dumm war und der immer unpassende Kommentare unters Volk streute, zuckte nicht mit dem Mundwinkel. – „He! Was ist los? Hat die Mensa die Preise erhöht?!“ Ein anderer Ausdruck für: „Ein plötzlicher Todesfall…?!“ – Als Antwort hielt mir die ohnehin etwas spaßfreie Miriam die Klobürste unter die Nase: „Sagt dir das etwas…?!“ – „Kann sie denn sprechen?“ – Chris rutschte aus Versehen ein Kichern heraus, wurde aber durch einen Blick der Kategorie „Ja zur Todesstrafe!“ zum Schweigen gebracht. Auch Manuel machte keinen amüsierten Eindruck: „Das hier ist echt nicht witzig!“ – „Was ist nicht witzig?“ – Miriam wedelte mit der Klobürste. „Das hier! Die war in der Spülmaschine!“ – „Ach!“ – Frostiges, tötendes Schweigen schlug mir entgegen! Spaßbereitschaft sah definitiv anders aus! Offensichtlich hatten schon alle anderen WG-Bewohner glaubhaft eidesstattliche Versicherungen abgegeben, nichts mit dieser Klobürstennummer zu tun zu haben. – Da blieb wohl nur noch ich übrig!
Ich schnüffelte an der Klobürste, die sich noch immer direkt vor meiner Nase befand: „Naja! Zumindest ist sie jetzt mal wieder richtig sauber!“ – Eines der heutzutage selten eintretenden Wunder sorgte dafür, dass meine Mitbewohnerin Miriam in diesem Moment nicht platzte, obwohl alle physikalischen Anzeichen daraufhin deuteten. „Du… du… du… du bist echt das Letzte!“ stammelte Miriam schließlich kaum hörbar hervor. Ehrlich gesagt, ich genoss dieses absurde Szenario. Es handelte sich um eine sogenannte „Fun-Omega-Situation“, die gerne mit „Schluss mit lustig“ übersetzt wird und ich besaß den Schlüssel, um die Hintertür (aus) dieser ausweglosen Lage zu öffnen.
Nachdem ich mich also wirklich gründlich versichert hatte, dass es sich bei unserer Küche um eine garantiert 100% humorbereinigte Zone handelte, versuchte ich mich auf einem fremdem Terrain: der Deeskalation! – Ich verzichtete auf Humor und gestand, jawohl, die Bürste in die Spülmaschine gesteckt zu haben und fügte, ganz ohne dramatische Pause, hinzu, dass es sich dabei aber um eine neue Klobürste handele und ausdrücklich nicht um unsere alte! – Weiterhin eisiges Schweigen. In den Blicken meiner WG-Genossen war keinerlei Erleichterung zu spüren, kein Aufatmen, kein Auflösen der Spannung!
Man glaubte mir nicht! – Miriam sprach den Gedanken aller aus: „Sicher!“ – Auch ein bekräftigendes „Ja, ehrlich!“ konnte die Geschworenen nicht überzeugen! Ich war ein ekliges, dummes Schwein, das die versiffte, Scheißetriefende Klobürste mit dem übrigen Geschirr in die Spülmaschine gesteckt hatte. – Ich war überführt, verurteilt und musste nur noch meine gerechte Strafe über mich ergehen lassen: die Entziehung sämtlicher Menschenrechte war vermutlich nur der harmlose Teil davon!
Meine politische Erkenntnis daraus war, dass demokratische Prozesse innerhalb einer WG recht schnell zu einer Abschaffung der Gewaltentrennung und vermutlich im nächsten Schritt zur Todesstrafe führen. Was in meinen Augen eindrucksvoll beweist, dass Demokratie eine weitestgehend überschätzte Angelegenheit ist.
„Ihr glaubt mir nicht?“ – Blicke sagen mehr als Worte. „Ähm, was ist mit der Unschuldsvermutung?“ – „Pah!“ machte ausgerechnet Manuel, unser wertekonservativer Jurastudent, und ich machte mir eine gedankliche Fußnote, mal ein klärendes Gespräch mit seinem Juraprof zu führen.
Bettina, die bisher noch nichts gesagt hatte, räusperte sich: „Okay! Wenn das hier eine neue Klobürste ist, wo ist dann die alte? Auf dem Klo ist sie nämlich nicht…“ – Bettina musste sich einige missbilligende Seitenblicke gefallen lassen. „Naja, die alte habe ich weggeschmissen!“ – „Soso!“ Miriam natürlich: „Weggeschmissen…!“ – „Ja, weggeschmissen! Ich weiß nicht, ob du sie dir gewöhnlich einrahmst…? Aber ich werde sie, um euch alle zu beruhigen, wieder aus dem Müll holen! Und zwar jetzt gleich, bevor es zu selbstjustiziablen Übergriffen kommt.“ Ich nickte in die Runde und machte mich auf den Weg zu den Mülltonnen, wurde aber von Manuel gestoppt. „Keine Tricks!“ raunte er mir zu. – „Was…?!“ Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte. „Keine Tricks!“ – Was guckte der denn für Filme? Damit sollte er dringend aufhören. Ich wiederholte für Manuel langsam und deutlich: „Ich gehe jetzt runter und hole die Klobürste aus dem Müll!“ – „Gut, und ich komme mit!“ – Auf diese Weise lernte man seine Mitbewohner mal von einer ganz anderen Seite kennen. Manuel begleitete mich also auf meinem Weg zu den Mülltonnen und ich konnte es mir dieses Mal nicht nehmen lassen, ihn noch ein wenig vorzuführen. Ich sah also zuerst in der falschen Mülltonne nach und begann, begleitet von einigen nervösen „Das gibt’s doch gar nicht!“, in ihr zunehmend hektisch herumzuwühlen. Nachdem Manuel mein merkwürdiges Treiben einige Momente beobachtet hatte, erhob er hämisch seine Nase: „Na…?! – Ist sie nicht mehr da? – Wahrscheinlich geklaut worden, was?!“ – „Äh, ja, äh, vielleicht hat sie jemand, äh, in die andere Mülltonne getan…!“ – „Sicher! Schwer davon auszugehen! – Warte, ich schau mal für dich nach!“ – Herrlich!
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Manuel die Kontrolle über seine Gesichtsmuskulatur verlor, als er die Klappe der Mülltonne öffnete und gleichzeitig seine eigene zu Boden fiel. Denn dort war sie! Die alte, versiffte Klobürste! „Wie wär’s jetzt mit einem kleinen Lächeln?“ – „Du Arsch!“ – Naja, oder so! Ich klopfte ihm auf die Schulter: „Ich geh dann mal wieder hoch. Magst du die Bürste mit hochnehmen? Ich glaub, Miriam wollte sie sich noch einrahmen!“
Haben solche Geschichten nicht immer eine Moral? Ich glaube, ich habe gelernt, mich nicht mehr ausschließlich den Ideen meines Teufelchens hinzugeben, zumindest nicht völlig unreflektiert. Des Weiteren, erkenntnistheoretisch, eignet sich, meines Erachtens, dieses Klobürstenexperiment ausgezeichnet dafür, um die Mitbewohner einer WG besser kennenzulernen, auch was demokratische Prozesse angeht. Man sollte sich dabei bewusst sein, dass Experimente scheitern können. Aber dieses Scheitern kann schließlich auch als Chance betrachtet werden.
Die konkreten Folgen für unsere WG waren, dass kurze Zeit später Manuel und Miriam ausgezogen sind. Die beiden sind übrigens seitdem zusammen und ich weiß bis heute nicht, wen von beiden ich dafür beglückwünschen muss.
Von allen übrigen Beteiligten wird inzwischen herzlich über diese Geschichte gelacht. Und Chris nimmt seither auf jede WG-Party, auf die er geht, in seinem Rucksack eine neue Klobürste mit und warte auf den unbeobachteten Moment, sie in der Spülmaschine zu verstecken, was zur Folge hat, dass er sehr lange auf den Partys bleiben und dort viel trinken muss, da es auf WG-Partys kaum unbeobachtete Momente in einer Küche gibt, da sich dort, bekanntlich, immer die meisten Menschen aufhalten. Und falls Ihr mal auf einer Party zu später Stunde einen komischen Typen mit Armeerucksack, der an der Spülmaschine rumlungert, fragt bitte, ob er Chris heißt und grüßt ihn ganz lieb von mir!
Na, und wenn Euch mal langweilig in Eurer WG ist, wisst Ihr jetzt ja, was zu tun ist!

