Der Besteck-Nazi

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Der Besteck-Nazi

Schon ein paar Wochen vor unserem Klobürstendrama hatten wir mal wieder eine solcher WG-Sitzungen gehabt, in der über gemeinsame Aktionen, Anschaffungen oder natürlich über WG-interne Probleme gesprochen wurde. Meist wurde lediglich zusammen gegessen, Wein getrunken und locker über dies und das geschwätzt. Es sei denn es gab wichtige Themen.

Aber dieses Mal – Manuel sei Dank – hatten wir ein richtiges Thema. Er räusperte sich: „Also, wir brauchen dringend ein Ordnungssystem für das Besteckfach der Spülmaschine!“ – Wow! – Wie hatten wir ohne leben können?! fragte ich mich. – Augenblicklich herrschte absolute Stille in unserer Küche. Kein Kauen, Schmatzen, Schlucken – kein Atemzug! Ein paar Zikaden in der Ferne. Sonst nichts!

Mein Mitbewohner Chris suchte verzweifelt meinen helfenden Blick. Denn wie sollte man adäquat auf so etwas reagieren? Gab es ein Verhaltenshandbuch für solche Situationen? Es gab doch Ratgeber für jeden Scheiß! Gab es bereits einen Ratgeber mit dem Titel: „Wie gehe ich mit meinem Mitbewohner um, der ein Ordnungssystem für das Besteckfach der Spülmaschine braucht“? Oder gab es eine Telefonhotline des psychologischen WG-Beratungsdienstes?

Chris’ Blick fand den meinen und wir prusteten zeitgleich los. Manuels Miene verfinsterte sich. „Ich meine das völlig ernst! Es ist jedes Mal totales Chaos im Besteckfach …!“ Aber weiter kam er nicht. Denn unser Lachen wuchs sich weiter aus und auch Bettina hatte schon schwer mit sich zu kämpfen. – Wer allerdings vermutet, Manuel hätte sich womöglich durch unsere Heiterkeit anstecken oder ablenken lassen und erkannte, wie absurd seine Äußerung auf einen normalen Menschen / WG-Bewohner wirken musste, der kannte Manuel schlecht. Denn jetzt wurde er erst so richtig fuchsig!

„Ja, ist schon klar, dass Ihr Euch über alles lustig macht, wenn man mal einen konstruktiven Verbesserungsvorschlag macht!“ Ich versuchte, gleichmäßig in den Bauch zu atmen, um mich zu beruhigen. – „Wo ist denn überhaupt das Problem?“ fragte Jan schließlich in die Stille. „Wo das Problem ist?! Das kann ich genau sagen!“ Chris hatte inzwischen einen knallroten Kopf und ich hatte ein bisschen Angst um ihn, dass er ersticken könnte, weil er seit geraumer Zeit in eine Brötchentüte atmete. „Ich ordne nämlich das Besteck beim Einräumen in die unterschiedlichen Fächer ein. Die großen Löffel kommen in das eine Fach, die kleinen in ein anderes und so auch die Messer, Gabeln und das sonstige Küchengerät wiederum in ein eigenes Fach!“ – Aha! Mir fehlte noch immer die Handlungs- und Bewusstseinsebene, auf der ich Manuel angemessen begegnen konnte.

Bettina hielt den Austausch am Leben: „Und warum machst du das?“ Ja, genau, das war doch mal eine gute Frage… „Warum?! – Weil ich dann beim Ausräumen alle Löffel, Messer und Gabeln mit einer Handbewegung direkt einsortieren kann!“

„Das hat man davon, wenn man Beamte Kinder machen lässt!“ dachte ich für mich. Jedenfalls dachte ich, dass ich es nur für mich gedacht hatte. Aber aufgrund der versammelten Blicke, die mich trafen, hatte ich es wohl laut genug für alle Beteiligten gedacht. Mit einem lauten Bums platzte die Brötchentüte vor Chris‘ Gesicht.

Dabei lag ich mit meiner Unterstellung vollkommen verkehrt. Denn Manuels Vater war kein Beamter. Er war sogar ein erstaunlich entspannter und lustiger Typ, den ich kurz bei Manuels Einzug kennengelernt hatte. Er entsprach also eher dem Gegenteil des Beamtenklischees und auch des Verhaltens seines Sohnes Manuel. – Aber mit meiner Fehlinterpretation saß ich einfach einem übergeordneten Irrtum auf. Schließlich hatten es die 68er ja schrecklich einfach gehabt. Was waren das für herrliche Bedingungen gewesen! Die gesellschaftlichen Verhältnisse konnten gar nicht geeigneter sein, um mit Krach und Getöse gegen das Spießertum anzugehen. Was war das für eine Vorlage für junge, ambitionierte Steinewerfer. Man muss einfach von einer extrem putschfreundlichen Gesamtsituation sprechen.

Aber wie sollte man sich gegenüber Revolutionären verhalten? Was machte man, wenn die Revolution schon gelutscht und Laios schon ermordet worden war? Die Generation nach der Revolution war dahingehend die tote Generation. Denn alle Brandsätze waren geschmissen, alle Molotowcocktails geraucht und alle Sitzblockaden längst abgesessen. Schließlich konnte man nur stehende Mauern umschubsen! Aber was passierte danach…?

Danach wurde gegen die Rebellion rebelliert! Was blieb unserem armen Manuel anderes übrig? Er sehnte sich nach Disziplin und Ordnung. Das war sein persönlicher Vatermord!

Währenddessen hatten sich die Blicke Chris zugewendet, der sichtlich geschockt auf die Reste seiner geplatzten Brötchentüte starrte. Er zitterte sogar regelrecht. Und dann warf er Manuel einen so finsteren Blick zu, wie ich es noch nie von ihm gesehen hatte: „Du verschissener Besteck-Nazi! Ist dir klar, dass mir deinetwegen fast die Fresse explodiert wäre…?! – Wegen so einem Scheiß!“

Schöner Einwand! So kann man auch mal ganz sauber und sachlich ein überflüssiges Thema beenden!

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