patagonien
Fundstück – Verkehrsregeln am Ende der Welt
Fundstücke in Fernwest – Verkehrsregeln am Ende der Welt
Bei meinem Aufenthalt in Ushuaia war mir das seltsame Fahrverhalten der Autofahrer aufgefallen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Mir war erst nicht so klar, was es genau war. Immer wieder, wenn ich als Fußgänger an eine befahrene Kreuzung kam, war ich unsicher und wusste nicht, welches Auto wohl anhalten und welches weiterfahren würde. Die zentrale Frage, die unbeantwortet blieb, war: Wer hatte hier eigentlich Vorfahrt? Rechts vor links, links vor rechts trotz Rechtsverkehrs, mehr Hubraum, höhere Autokennzeichennummer, mehr Promille, größerer Penis…?
Zum Teil donnerten die Autos mit ziemlich großer Geschwindigkeit in die Kreuzung, sodass sie unmöglich erkennen konnten, ob von links oder rechts ebenfalls jemand etwas von der Kreuzung wollte, geschweige denn die Größe des Penisses. Was recht gefährlich aussah. Auch gab es natürlich keine Vorfahrtsschilder, die eine solch offensive Fahrweise rechtfertigten. Wachte ein feuerländischer Schutzengel über seine Schäfchen? Oder hatte es doch etwas mit der Coriolisbeschleunigung zu tun, die bekanntlich auf der Südhalbkugel in die andere Richtung ablenkt?
Auf der Fahrt zum Flughafen fragte ich meinen Taxifahrer und der kam tatsächlich mit einer plausiblen Erklärung daher. Das Straßennetz in Ushuaia ist grundsätzlich als Schachbrettmuster angelegt. Da sich die Stadt vom Beagle-Kanal aus am Hang hochzieht, verlaufen die einen Straßen parallel und die anderen senkrecht zum Gefälle und zum Teil ziemlich steil. Daraus ergibt sich besonders im feuerländischen Winter eine gewisse Verkehrsgefährdung. Und damit auf dem unter Umständen glatten Untergrund die bergauf- und die bergabfahrenden Autos nicht zu riskanten Bremsmanövern gezwungen werden, haben diese hier Vorrang und jene Autos, die ohne Gefälle parallel zum Hang unterwegs sind, müssen die Vorfahrt achten. Und um das nicht zu kompliziert zu machen, hält man sich auch im Sommer daran. Bei allen anderen Fällen, in denen sich die Fahrer selbst nicht ganz klar sind, sieht man sie, wie sie sich gegenseitig zu- und über die Kreuzung winken. Und zwar nicht mit dem ausgestreckten Mittelfinger! Vernunft und Straßenverkehr scheinen sich also nicht grundsätzlich auszuschließen, zumindest am Ende der Welt…

Fundstück – „Pünktlich wie die Eisenbahn“
Fundstücke in Fernwest – „Pünktlich wie die Eisenbahn!“
„Pünktlich wie die Eisenbahn!“ Man kann es sich kaum vorstellen, dass dieser Satz einst völlig ironiefrei benutzt worden war. Heute sorgt er für Heiterkeit oder Betroffenheit. Aber mit Sicherheit ist er selten ernst gemeint.
Wir befanden uns in Esquel, einem kleinen Städtchen in Patagonien. Ich hatte mich für ein paar Tage Mauricio und Federico aus (nein, nicht Italien) Buenos Aires angeschlossen und wir waren auf unserem Roadtrip quer durch Patagonien in Richtung Atlantikküste gefahren.
Morgens im Hotel nach sehr feinem Frühstück, was nun wahrlich keine argentinische Kernkompetenz ist, wurde plötzlich aufs Tempo gedrückt. Denn wir wollten uns vor der Weiterfahrt noch „La Trochita“ anschauen. Das ist eine alte Schmalspurdampflok, die zu touristischen Zwecken durch Patagonien zuckelte und jeden Morgen um 10:00 den „Bahnhof“ verließ. Es war schon kurz vor 10, als wir losfuhren. Mauricio beeilte sich und ließ uns beiden anderen am Eingang rausspringen. Ich verstand die Hektik nicht so ganz, aber eilte Federico hinterher. Da hörten wir aber auch schon das pfeifende Dampfablassen der Bahn. Wir verfielen in den Laufschritt und joggten neben den Waggons her, um zur Lok zu gelangen.
Wir schossen schnell ein paar Fotos, als sich die Trochita auch schon in Bewegung setzte. Es war Punkt 10:00 Uhr! Als sich Mauricio nach dem Parken zu uns gesellte, war Patagoniens Touristenbahn auch schon nur noch von hinten zu sehen. Mauricio war aber schon mal hier gewesen und lächelte: „Die einzige pünktliche Bahn in ganz Argentinien!“ Die Deutsche Bahn hat in Südamerika übrigens noch immer einen hervorragenden Ruf, was Pünktlichkeit angeht. Jetzt musste ich lächeln!
Argentinien hatte übrigens das mit Abstand am besten ausbaute Bahnnetz in ganz Südamerika. Aber unter Präsident Menem wurde die Bahn dann in den 1990ern privatisiert und nur kurz später war bereits der Großteil der Strecken stillgelegt. Bravo! Inzwischen war natürlich ein Großteil des Schienennetzes nicht mehr nutzbar. Um Buenos Aires fahren noch ein paar alte Züge und es gibt ein paar touristische Strecken, wie die „Truchita“ oder den „Tren Patagonico“, der von Bariloche nach Viedma 15 Stunden durch Patagonien fährt – einmal pro Woche! Aber der Rest ist tot.
Ich schaute der Trochita nach und lächelte. „Pünktlich wie die Eisenbahn!“ Dass es so etwas noch gab…! In Südamerika…! Das glaubt mir doch wieder kein Mensch!


Fundstück – Trelew – pünktlichstes Flughäfchen der Welt
Fundstücke in Fernwest – Trelew – pünktlichstes Flughäfchen der Welt
Für meine Weiterreise in den südlichsten Süden Argentiniens hab ich mich für einen Flug von Trelew, eine knappe Stunde mit dem Colectivo von Puerto Madryn, nach Ushuaia/ Feuerland/ Ende der Welt entschieden. Es gibt sogar einen zweistündigen Direktflug. Da fällt die Entscheidung gegen zwei Tage im Bus leicht.
Der Flug soll um 10:35 gehen. Ich nehme morgens mein Colectivo und bin der einzige Passagier (!), der dort um 9:00 sein Gepäck aufgibt. Ich trink noch einen Kaffee. Dort sitzen schon zwei deutsche Mädels, während kurz darauf eine französische Reisegruppe eintrifft. Auf dem Bildschirm erkenne ich, dass alle vier Flüge des heutigen Tages pünktlich sein werden (Foto).
Um 9:45 macht die Sicherheitsschleuse auf. Ich warte die Reisegruppe ab, schlendere zum Sicherheitsbereich und geb noch schnell mein Taschenmesser ab (bravo!). Als ich die Treppe zum Boarding hochrolle, ist schon kein Franzose mehr zu sein. Da wird auch schon mein Name ausgerufen. Ich schaue auf die Uhr: 10:00 Uhr! Aha! Habe ich mal wieder etwas verpasst. Liegt der Flughafen in der gälischen oder venezolanischen Zeitzone, die geht ja schon mal gerne eine halbe Stunde anders. Fünf Minuten später sitze ich auf meinem Platz und Boarding is completed. Die Maschine kommt im übrigen aus Buenos Aires, landet hier nur zwischen und hatte wohl einen Tiger im Tank oder ordentlichen Rückenwind.
Wie auch immer, wir fliegen eine halbe Stunde vor dem Zeitplan los. Das ist mir auch noch nicht passiert. Warum auch nicht?! Mit Drängeleien auf der Startbahn ist hier jedenfalls nicht zu rechnen!

Fundstücke – der Lemmingvogel
Fundstücke in Fernwest – der Lemmingvogel
Der heutige Tag bringt uns auf die Península Valdés, die Halbinsel der Orcas. Die halten sich aber strikt an die versprochene Jagdsaison und legen dann wohl erst im März los. Und das, obwohl der Strand bereits üppig mit Seelöwen gedeckt ist. Mit anderen Worten: no hay orcas!
Dafür ist die Tierwelt ansonsten reichhaltig vertreten und lässt sich auch Ende Februar bestaunen: Seelöwen, Seeelfanten, Magellan-Pinguine, Nandus, Guanacos, Gürteltiere und Vögel. Okay, ich geb zu, Vögel sind nicht meine Lieblingstiere. Aber der Vogel, den wir heute kennen lernen und mehrfach überfahren durften, hat mich schon beeindruckt. Nennen wir ihn mal liebevoll „Lemmingvogel“! Mit wie wenig Hirn so ein Tier durch die Evolution gekommen ist, das ist in der Tat beeindruckend! Das Habitat des Lemmingvogels ist anscheinend der Straßengraben, allerdings mit einer starken Sehnsucht zum anderen Straßengraben. Man könnte hier auch von Todessehnsucht sprechen. Denn das praktizierte Grabenwechselverhalten zeugt nicht gerade von Intelligenz oder auch nur einem Mindestmaß an Überlebenswillen.
Mauricio, der Fahrer, gibt sich wirklich alle Mühe, den Schaden gering zu halten. Aber tötungsfrei ist unsere Piste vermutlich nicht zu bewältigen. Denn egal, was man tut, der Lemmingvogel gibt sich derart Mühe, unter die Reifen zu kommen, dass man ihm einfach Absicht unterstellen muss. Der Lemmingvogel ist so ein Hühnerartiger Vogel und könnte theoretisch schon fliegen, falls er es denn eilig hätte. Denn richtig schnell laufen kann er auch nicht. Aber seine eigentliche Stärke ist es, dass er die Geschwindigkeit anderer überhaupt nicht realistisch einschätzen kann – oder eben nicht will.
Auf der Rückfahrt am Abend bewundere ich das Ausmaß des von Todessehnsucht animierten Massensuizids des Lemmingvogels. Bei meiner abendliche Recherche erfahre ich, dass auf den Straßen zwischen der Península und Puerto Madryn die höchste Federasphaltdichte Argentiniens herrscht. Hierfür werden zeitnah Satellitenbilder ausgewertet und bestimmt, zu welchem Prozentsatz die Straßen mit Federn bedeckt sind. Förderlich für einen hohen Wert ist natürlich, dass hier auch gelegentlich ein Nandu unter den Verkehrstoten ist. Und so ein platter Nandu deckt natürlich gleich ein ordentliches Stück Straße ab.


