grenzen der toleranz
Fundstück im ICE76
Fundstück im ICE76
Über die Grenzen der Toleranz!
Wie alt muss man sein, damit man/frau im Zug ungestraft ein hartgekochtes Ei essen darf? – Warum nicht gleich noch eine Schlachteplatte auspacken oder auf dem Tischchen Innereien grillen?
Die Frau neben mir ist um die 80 und sie ist sich keiner Schuld bewusst, als sich ihre Dritten genussvoll ins Ei fräsen. Was kann man da machen? Wer muss hier wen tolerieren? Soll ich sie fragen, ob sie mal anhauchen möchte…?
Immerhin liegt das Eier-Odeur so dominant im Abteil, dass meine Nase nicht erkennen kann, um was für eine Wurstsorte es sich auf ihrem Butterbrot handelt. (Funfact: Eins meiner allzeit Lieblingsworte aus dem Ostdeutschen ist und bleibt Fettbemme! Sagt alles!)
Die Omi nebenan wippt vergnügt mit den Füßen. Naja, wird vielleicht Zeit, meinen vier Jahre alten Ziegenkäse rauszuholen… Oder ist das der rechte Moment, um endlich mit dem Rauchen anzufangen?
Busfahrt mit Vallenato
Eine Busfahrt mit Vallenato
oder: „Bärchen, ich schwör, das hättest du nicht überlebt!“
Für alle, die Vallenato kennen: Ihr wisst ja Bescheid!
Für alle anderen:
Auch einem geübten Backpacker passiert mitunter mal ein Schnitzer. Also merkt Euch für alle Zeit (also besonders ich!): Oropax gehören, verdammt noch mal, ins Handgepäck! Da gibt es keine Ausreden.
Mir war es gelungen nach einem langen Flug und einer staureichen Busfahrt vom Flugplatz nach Caracas doch noch einen Platz im Nachtbus nach Mérida zu ergattern. Das klingt doch wie ein Erfolg. Erstmal! Aber, die Einleitung lässt die berechtigte Vermutung zu, dass sich die Oropax im Kulturbeutel im großen Rucksack befanden und nicht, da wo sie hingehörten, in meinen Ohren!
(Exkurs zum Thema „Stau in Caracas“: Was will man erwarten, wenn man in einer Fünfmillionenstadt den Sprit an die Bevölkerung verschenkt…?! En serio! Was soll da wohl passieren?! Und „verschenken“ ist hier ausdrücklich nicht metaphorisch gemeint, sondern soll heißen, dass er nichts kostet. Eine Tankfüllung kostet deutlich weniger als 1 Dollar! Offizieller Wechselkurs! Und wehe es fängt jetzt einer an, ja, aber das hängt ja davon ab, wie viel man verdient…)
Die Direktbusse nach Mérida waren schon ausverkauft. So musste ich froh sein, überhaupt noch einen Platz zu bekommen. Auch wenn mir nicht so ganz klar war, wohin dieser Bus, ich den ich da geschoben wurde, denn nun genau fuhr. Ich konnte auch durch angestrengtes Suchen in meiner Karte keinen halbwegs ähnlich lautenden Ort in der groben Nähe von Mérida finden. Auch Nachfragen half nicht: Jaja, Umsteigen in Nuschelnuschel! Danke vielmals.
Ich fand einen Platz in der letzten Reihe des Busses, in der man die Rückenlehnen nicht verstellen kann. Immerhin saß dort ein Mitreisender, der auch nach Mérida wollte, was mich so sehr erleichterte, dass mir die korrekte Aussprache und geographische Lage von Nuschelnuschel plötzlich völlig egal waren. Denn so verkehrt konnte der Bus ja nicht sein!
Auch die hinterste Reihe füllte sich bis auf den letzten (5.) Platz, sodass es gemütlich wurde und eigentlich – gemäß lateinamerikanischer Busfahrerregel – hätte losgehen müssen. Es sei denn: man wartet auf noch mehr Passagiere, die sich in die Gänge zwängen. Was natürlich auch sehr beliebt ist… Aber nein! Es ging einfach ohne Grund nicht los. Die beiden Busfahrer erschienen und gingen immer mal wieder, setzten sich schon mal wichtig auf ihren Platz, um ihn aber wieder zu verlassen, was der Venezolaner aber kommentarlos verträgt.
Damit uns Wartenden nicht allzu langweilig wurde, lief bereits ein Actionfilm. Der Bildschirm war vorne über dem Fahrer und die Boxen, die praktischer Weise über der letzten Sitzreihe hingen, konnten einiges und waren so gut mit der Karosserie verschraubt, dass wir die Bässe auch mit dem Hintern hören konnten.
Es wäre alles halb so wild gewesen, wenn es nicht doppelt so laut gewesen wäre. Der durch den Sozialismus gestählte Venezolaner erträgt das ohne Murren. Denn er weiß, dass es in einer Planwirtschaft nicht immer alles gibt. Für uns konkret bedeutete das: Es gibt nur „laut“, denn „leise“ ist gerade aus!
Als wir endlich eine Stunde später los fuhren, lief bereits der nächste Film, zwar kein Action, aber genau so unerträglich laut. Ich fühlte schon den Wahnsinn in mir aufsteigen und es lagen noch 14 Stunden Fahrt vor mir. Wie war das noch mal mit der venezolanischen Ratifizierung der Genfer Konventionen…?
Nachdem der überlaute und überwitzige Film vorüber war, ging es mit der Musik los. In wechselnder Folge erklang Salsa (okay), Merengue (naja) und schließlich Vallenato (Oh mein Gott!). Im Kabinett des Grauens fehlte lediglich Reggeaton, der es in seiner Unerträglichkeit mit dem Vallenato tatsächlich aufnehmen kann. Vielleicht sollte der Verzicht auf Reggeaton als venezolanischer Versuch des Gottesbeweises herhalten… Wer weiß? – Auf jeden Fall wiederholte sich die Playlist einige Male, schließlich hatten wir ja Zeit.
Den „Vallenato“ muss ich kurz erklären. Eine Combo setzt sich zusammen aus einem möglichst verstimmten Akkordeon (fragt mich nicht, warum das so ist. Traditionen sind manchmal schwer zu erklären…), einer Trommel, einer Güira (einer Art Käsereibe, über die ununterbrochen hoch- und runtergeschrubbt wird) und einer wehklagenden Jammerstimme, die die immer gleiche Geschichte vom Mann erzählt, der sein geliebtes Tal (samt Familie, Geliebte und Esel) verlassen musste und darüber fürchterlich leidet und selbstverständlich nie nie glücklich werden kann. Doch anstatt einfach in sein verdammtes Tal zurückzukehren und endlich die Fresse zu halten, heult er einem in tausendfacher und doch immer gleiche Weise die Ohren voll. Unerträglichkeit erreicht durch den Vallenato eine ungeahnte Dimension.
Natürlich möge man einwenden, Musik sei Geschmacksache. Aber Toleranz muss auch seine Grenzen haben! Ich zum Beispiel kann rechtes Gedankengut weder tolerieren noch ertragen. Ebenso gehört, meines Erachtens, der Vallenato völkerrechtlich geächtet!
Aber irgendwie hatte diese Fahrt mit Null Stunden Schlaf und 12 Stunden Vallenato auch etwas Bezauberndes, was ich nur schwer erklären kann. Jedenfalls störten mich am Ende der Fahrt nicht mal mehr die komischen Blicke der Mitfahrenden, die mich beim lauten, klagenden Mitsingen trafen. So viel schlimmer konnte es schließlich gar nicht klingen!
Ach ja, fast hätte ich es vergessen: „Bärchen, ich schwör, diese Fahrt hättest du nicht überlebt!“