Monat: Oktober 2013
Kleiner Grenzverkehr
Kleiner Grenzverkehr – Teil 1
Ich nehme den „kleinen“ Grenzübergang zwischen Venezuela und Kolumbien, zwischen Maracaibo und der Península La Guajíra, vor dem in manchen Reiseführern gewarnt wird. Ui! Das klingt doch nach Abenteuer. Ich weiß aber inzwischen, dass das nichts weiter zu bedeuten hat.
Nach einem schwül-heißen Tag in Maracaibo fällt mir der Abschied aus der Ölhauptstadt Venezuelas nicht sonderlich schwer. Immerhin konnte ich beim gestrigen Abendessen im einzigen sich drehenden Restaurants Venezuelas das einzigartige Naturphänomen Catatumbo über dem Lago de Maracaibo zumindest noch von Weitem erblicken. Das ist so etwas wie Polarlicht light für Venezolaner: ständig zuckende Blitze ohne Donner!
Am Terminal wird mir dieses Mal schon vorm Eingang „Maicao!“ entgegen gerufen, mein kolumbianischer Grenzort. Es wird mir der Dienst in einem „Por Puesto Taxi“ angeboten. Dabei handelt es sich um eines dieser uralten US-Schlachtschiffe, in denen man einen Platz (also nicht das ganze Taxi) erwirbt. Das Ganze ist zwar etwas teurer als ein Bus aber natürlich viel billiger als ein Taxi selbst. Außerdem hält es nicht überall und sollte dadurch eigentlich schneller sein. Immer verdächtig, wenn das Wort „eigentlich“ in solchen Zusammenhängen fällt!
Naja, warum nicht? – Warum nicht, erklärt sich mir im Verlauf der nächsten Stunde, in der wir auf die nötigen 5 Passagiere warten, die das „Por Puesto“ voll machen! Jaja, es geht gleich los… Sonst wird weiter gewartet…
Nach einer Stunde sind die Wartenden (inklusive mir) sauer genug, sodass uns das Personal dieses „Por Puestos“, dann auch zu viert losfahren lässt. (Auf dem Foto unten erkennt man die vier Männer, die sich mit unserer Fahrt beschäftigt haben, also mehr oder weniger für das „Reiseunternehmen“ arbeiten, unter dessen Flagge unser rollender Mülleimer segelt. – Nicht eingerechnet auf dem Extra-Foto der freiberufliche Typ, der mit Trillerpfeife den Leuten beim Einparken hilft, ob sie wollen oder nicht. Was auch so ein Job ist, den man mal für ’ne Viertelstunde, aber bitte keine Minute länger, übernehmen würde.)
Um Fahrweisen und deren -vergehen soll es hier nicht gehen. Das würde den Rahmen völlig sprengen. Nur so viel: Wer auch nur einen einzigen Tag auf venezolanischen Straßen er- und überlebt hat, wird sich in Europa nie wieder über irgendetwas aufregen (können). Versprochen!
Natürlich müssen wir, bevor’s losgeht, auch noch mal volltanken, was verständlich ist, wenn man sich erinnert, dass Tanken in Venezuela nur Zeit, aber niemals Geld kostet. Die Strecke dauert ungefähr zwei Stunden (theoretische Fahrzeit) und auf den letzten hundert Kilometern vor der Grenze gibt es keine Tankstellen mehr.
Unser junger Fahrer hält aber später trotzdem noch zweimal an, um sich am Straßenrand den Tank auffüllen zu lassen (siehe Foto). Das eine Mal auf offener Strecke an einer wilden Müllhalde, an der dann eine dubiose Person mit Plastikflaschen zwischen den Büschen hervorspringt… Hä?! Ich begreife das nicht! Das Benzin ist in Venezuela quasi ein Werbegeschenk der sozialistischen Regierung an sein Volk. Warum also kurz vor der Grenze überteuerten illegalen Sprit tanken? Hä?! – Beim zweiten Nachtanken sind es gerade mal ein paar Literchen für 20 Bolos, was, wie wir gelernt haben, für vier venezolanische Tankfüllungen ausreicht!
Das wirkt, auf den ersten Blick, bizarr. Aber es lohnt sich ein zweiter. Denn es lohnt sich sehr, mit einem randvollen Tank über die Grenze zu kommen, um dort so viele Liter wie möglich abzusaugen und zu verkaufen. Klingt idiotisch. Aber nicht lange, wenn man sich bewusst macht, dass der Sprit in Kolumbien zu handelsüblichen Preisen gehandelt wird (3000 Peso pro Liter = 1,15 €) und in Venezuela verschenkt wird. Zur Wiederholung und zum Weitererzählen: „An einer venezolanischen Tankstellen ist Pissen teurer als Volltanken!“ Und das ist kein Witz!
Auf der Fahrt von Maracaibo bis zur Grenze kommen wir an geschätzten acht bis zwölf Kontrollposten vorbei. Wir müssen meist nicht mal die Pässe zeigen, aber es staut sich trotzdem jedes Mal der Verkehr auf.
Schließlich kommen wir an die Grenze. Die venezolanische Grenzstelle ist geschlossen, Mittagspause. Dementsprechend vergrößert sich die Schlange der Anstehenden. Nach der Pause wird die Schlange aber dann erstaunlich schnell und ohne lästige Fragen weggestempelt. Unfreundlich natürlich und bei mir landet der Stempel auf einer Seite im Reisepass, die ausdrücklich für deutsche Vermerke vorgesehen ist. Aber sich jetzt zu beschweren, das hieße, sich selbst ins Knie zu schießen.
Bei den Kolumbianern geht’s etwas gediegener zu. Man sitzt an, in einem klimatisierten Raum! Ich bin im übrigen der einzige nicht-Venezolaner/Kolumbianer im ganzen Grenzbereich, was dafür sorgt, dass es natürlich bei mir zu Verzögerungen kommt. Mein Fachbearbeiter hat mir schon mit Schwung den Stempel in den Pass gepresst, verharrt aber und verschwindet von seinem Platz und läuft zu Kollegen im hinteren Bereich! Och, nöh! geht mir durch den Kopf! Was denn nun? Der Typ kommt trällernd, lächelnd zurück und fragt mich, ob ich nach Santa Marta fahren würde. Ich sage: Ja, wahrscheinlich schon. Ja, weil es hier Probleme gibt mit dem Pass, da müsste ich dort noch mal auf ein Amt. Hä…?! Was ist…?! – Zum Glück wartet die Kolumbianerin, die mit mir ihm Taxi saß, noch so halb neben mir und eilt zu Hilfe und fragt nach! Damit hat der Typ nicht gerechnet! Sie sagt, er soll mal genau die Adresse und seinen Namen aufschreiben und noch mal genau erklären, was denn nun Sache sei. Tatsächlich beginnt er, etwas aufzuschreiben, aber hört dann plötzlich auf und meint, irgendwie habe sich jetzt doch alles geklärt. Pasaporte und Tschüss! Hä?! Ich schüttele innerlich ein paar Mal den Kopf. Was sollte das denn werden? Mal hübsch den einzigen Gringo über den Tisch ziehen…? Von wegen Probleme und dann mit ein paar Scheinchen die Sache erledigen… Netter Versuch! Ihr Schweinepriester!
Meine Reise endet für heute in Riohacha, der größten Stadt von La Guajira, einem der trockensten Flecken Kolumbiens. Demwidersprechend geraten wir in ein extrem potentes Tropengewitter mit allem Drum und Dran. Die fünf Schritte, die ich im Terminal vom Bus zum Unterstand machen muss, machen mich nass! – Es scheppert, zuckt und knallt, als hätte der Himmel Totalschaden. Dann haut’s im Terminal auch noch den Strom raus. Die Gesamtchoreographie stimmt!
Eine Stunde später fährt mich ein Taxi durch die Seenplatte Riohachas. Was ein Spaß. Jetzt fehlt nur noch ein kaltes Aguila (das Bier der kolumbianischen Küste).
Bienvenido a Colombia!



Schümli
Schümli
Ich würde jede Wette eingehen, dass ich eine andere Assoziation zum Wort „Schümli“ habe als Ihr. Gut, vielleicht habt Ihr gar keine Assoziation zu „Schümli“. Vielleicht neigt Ihr nicht so zu Assoziationen. Muss ja auch nicht. So etwas wird gnadenlos überbewertet.
Das Bild, das sich vor meinem inneren Augen formiert, wenn ich „Schümli“ denke, ist zwar nicht besonders schön oder appetitlich aber mit Sicherheit einzigartig. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass demnächst der eine oder andere von Euch auch eine ganz neue Assoziation zu Schümli haben wird.
Neuerdings geh ich schwimmen. Fand ich früher doof und langweilig. Und Schwimmer:innen waren auch doof und langweilig. Alle. Logisch. Und so ist es ja auch immer noch. Ich hab mir also eine Schwimmbrille gekauft und eine 10er-Karte und schon war ich selber ein doofer Langweiler. War gar nicht so schwer. War fast ein bisschen stolz auf mich. Über meine Wandlungsfähigkeit. Über meine Offenheit, mich alten Vorurteilen zu stellen. Muss ich meiner Exfreundin erzählen, die immer meinte, dass ich so schrecklich eingefahren sei und mich auf nichts Neues einlassen würde. Soll sie sich doch mit Heißwachs enthaaren – also wirklich!
Zurück zum Schwimmen: Aber bei aller Langeweile, hin und wieder kann man im Schwimmbad etwas erleben, was man so woanders nicht erleben könnte. Nach dem Schwimmen geh ich zu den Duschräumen, wo sich schon ein paar Männer duschen. Es gibt zwei halboffene Duschkabinen und einen offenen Gruppenduschraum. Also, die meisten Männer duschen sich in einem öffentlichen Schwimmbad nackt. Machen Frauen das eigentlich auch? Konnte ich bisher noch nicht überprüfen. Saunafreunde sind Nacktduscher, das ist klar, aber ansonsten im normalen Badebetrieb zeigen sich Frauen städtisch-öffentlich gegenseitig ihre Brüste…?
Über Brüste gibt es sicherlich viele schöne Geschichten. Aber sie gehören jetzt nicht hier her. Also schnell zurück in die Männerdusche. Drei, vier Männer duschen dort bereits und einer von ihnen ist besonders vergnügt bei der Sache. Der war mir schon beim Schwimmen aufgefallen. Beim Bahnenschwimmen begegnet man sich ja regelmäßig und dieser Mann war besonders dick, also ausnehmend dick. Und ich dachte mir schon beim Schwimmen: Bohr, ist der dick! Muss man ja regelrecht außen rum schwimmen! – Aber ich dachte auch: Cool, dass der trotzdem schwimmen geht!
Jedenfalls macht er unter der Dusche einen höchst vergnügten Eindruck, was ich daran erkenne, dass er sich wie ein Verrückter einschäumt. Nicht nur so ein bisschen Duschgel zum Saubermachen, nein, sondern weil er Spaß daran hat. Ich denke: Aha, viel Schaum = viel Spaß! Ich lächele für mich und schenke mir auch noch eine extra Portion Duschgel in die Handfläche ein und schäume ordentlich nach.

Dann bückt sich der dicke Mann, um sich seine Beine einzuschäumen. Ganz schön gelenkig für sein Volumen, denk ich. Und er beugt sich noch weiter runter, um auch an die Füße zu kommen, und genau in diesem Moment, durch das Zusammenklappen von Ober- und Unterkörper, schießt ihm zwischen den gewaltigen Pobacken eine weiße Schaumfontäne heraus! Abgerundet wurde dieses Spektakel durch eine dezente Note von Jojoba-Grapefruit in der Luft.
Schön, zu welchen Tricks dicke Männer in der Lage sind!

Und ich sehe seine Enkel vor mir, wie sie rufen: „Opa, Opa, machst du noch mal Schaum hinten raus?!“ – Und er sagt: „Och, Kinder…!“ – Aber sie schreien und hüpfen und flehen: „Opa, bitte, noch einmal Schaum machen, bitte!“ – Und schließlich lächelt er sein bestes Opalächeln, seift sich noch mal gründlich ein und sagt – und ich weiß auch nicht, woher er plötzlich diesen schweizer Akzent hat:
„Also gut – Opa macht noch einmal Schümli!“
Frau mit Vogel
Frau mit Vogel
(Guatemala 2008)
Gegenüber auf der anderen Straßenseite stand eine Frau und winkte mir mit beiden Armen zu. Eine großangelegte Geste, die mir galt…? Wer war diese Frau? Was wollte sie? – Ich blickte mich sicherheitshalber um. Und, ja, was wollte sie von mir?
Jetzt, da ich sie bemerkt hatte, fuchtelte sie noch ein wenig wilder. Ja, sie meinte eindeutig mich! Ich solle ihr bitte zu ihr kommen, sie brauche meine Hilfe! rief sie auf Englisch, genauer gesagt, sogar ziemlich Amerikanisch.
Eine kleine, dickliche Amerikanerin, allein um Hilfe bittend auf einer guatemaltekischen Straße… Mein Pfadfinderherz war aktiviert. Ich wechselte die Straßenseite. Lächelnd begrüßte sie mich. „Sie müssen mir helfen, mein Vogel sitzt da im Baum!“ – „Ihr Vogel…?!“ – Eine amerikanische Touristin hatte ihren Vogel in einem guatemaltekischen Baum sitzen? „Ja, dort sitzt er! Ich wollte ihn freilassen!“ – „What?!“ Ich hoffte, etwas falsch verstanden zu haben. Aber nein! Sie hatte eine Taube in einem Geschäft gekauft, um sie freizulassen. Mir stand ein großflächiges „Hä?!“ ins Gesicht gemeißelt. War die noch ganz dicht? – Das mache man so! sagte sie belehrend und sah mich ernst an. „Who?“ entgegnete ich. Who um alles in der Welt mache so etwas? – Das sei durchaus üblich so. Sie mache das auf jeder Reise. „Und andere übrigens auch!“ Wie sie noch schnell hinzufügte. – Ja, neh, sicher! Natürlich! Ich sonst ja auch…
Naja, wie auch immer. „Aber dann ist doch alles bestens! Der Vogel sitzt in Freiheit…“ – „Nein, gar nichts ist gut! Der Vogel fliegt nicht. Wir müssen etwas tun!“ – Ihm fliegen beibringen…? schoss mir durch den Kopf. Und wieso überhaupt „wir“? – „Wir müssen ihn wieder einfangen!“ – Aha! Der Sachverhalt war doch ganz klar. Der Vogel konnte nicht richtig fliegen, war also nicht überlebensfähig, der harten guatemaltekischen Wirklichkeit nicht gewachsen. Das ganze gutgemeinte Prinzip des Freilassens funktionierte so natürlich nicht mehr, wenn Freilassen plötzlich Verrecken bedeutete. Das leuchtete ein. Also musste der Vogel eingefangen und zurück in den Vogelladen gebracht werden, wo man sich adäquat und professionell um diesen flugunfähigen Vogel kümmern sollte.
Die Taube selbst saß gleichgültig und bewegungslos auf einem Ast, während um uns herum bereits einige Passanten stehen geblieben waren, die uns, die Frau, mich und den Vogel, beobachteten.
Meine Aufgabe sollte es nun sein, den Vogel zu schnappen. Die Frau selbst war zu klein, zu ungelenk und viel zu aufgeregt dafür. Sie versuchte, den Vogel mittels „Guzzi-guzzi“-Lauten abzulenken, während ich mich aus dem Vogelrücken heraus an den Baum heranpirschte. Und es klappte auch ganz gut – eigentlich. Also fast ganz gut, um es genau zu sagen. Denn der Vogel ließ sich hervorragend ablenken und mir gelang es auch, den Vogel an den Schwanzfedern zu fassen. Allerdings war das flugunfähige Vieh doch agil genug, um sich wieder loszureißen, was mehrere Folgen hatte. Erstens fingen die umstehenden Zuschauer zu kichern an, zweitens verlor die Taube eine Handvoll Schwanzfedern an mich und drittens kassierte ich einen strengen, vorwurfsvollen Blick der amerikanischen Vogelmutter.
Der Vogel hatte sich mit ein paar notdürftigen Flügelschlägen auf einen Nachbarzweig gerettet. „Du solltest ihn fangen und ihm nicht die Federn ausreißen!“ – „Ich hab doch versucht, ihn zu fangen!“ – „Aber doch nicht so!“ – Aha! Wenn sie besser ausgebildet war, bitteschön!
Weitere Passanten blieben stehen. Vor dem zweiten Versuch bekam ich neben Taubenmamas Anweisungen auch noch Ratschläge eines guatemaltekischen Vogelfangexperten. Ich sollte die Taube genau so fangen wie ein Huhn! – Richtig, muchas gracias auch noch mal!
Zweiter Anlauf: Wiederum Guzzi-guzzi und vorsichtiges Anschleichen. Da der zweite Ast ein wenig höher hing, musste ich mich auf Zehenspitzen anpirschen. Das Gekichere der Zuschauer war dieses Mal schon ein bisschen lauter. Der Hühnerfanggriff funktionierte – beinahe. Auch dieses Mal flatterte sich die Taube frei und schaffte es sogar auf ein benachbartes Hausdach. Ein Raunen ging durchs Publikum wie nach einer vergebenen Großchance im Fußballstadion.
Zu meiner eigenen Enttäuschung gesellte sich der vernichtende Blick der Vogelmama, in dem – ohne Übersetzungsverluste – ein international gültiges „Du kannst ja wohl gar nichts!“ mitschwang. – „Immerhin kann die Taube wieder fliegen!“ versuchte ich den zornigen Blick ein wenig aufzuweichen. „La paloma puede volar!“ übersetzte ich noch schnell, um wenigstens das einheimische Publikum auf meine Seite zu ziehen.
„Es sieht nicht so aus, als könne er für sich alleine sorgen!“ stellte die allwissende Vogelmama fest. Ich wähnte mich schon die Fassade hochklettern, als mein Blick auf eine Tüte Vogelfutter fiel, die am Baumstamm lag. „Er muss sich nur ein wenig stärken und erholen. Und dann wird das schon wieder!“
Glücklicherweise sah sie ein, dass uns keine andere Wahl blieb. Sie nahm die Tüte und warf eine Handvoll Futter ungelenk gegen die Hauswand, was zu spontanem Gelächter sowie vergnügtem Händeklatschen führte. Sie warf noch eine Handvoll gegen die Wand und einen wütenden Blick auf die amüsierten Umstehenden. Dann nahm ich ihr die Tüte ab und schleuderte eine Futterration zielgenau aufs Dach direkt neben die Taube. Wenigstens das hatte geklappt!
Ich verabschiedete mich von der Vogelmutter, ihrem Vogel und dem ausgezeichneten Publikum. Sie blieb noch, um ihrem Vogel ein wenig Gesellschaft zu leisten, und ich ging mit dem Gefühl, zumindest den Einheimischen eine gute Show geboten zu haben.
Der Besteck-Nazi
Der Besteck-Nazi
Schon ein paar Wochen vor unserem Klobürstendrama hatten wir mal wieder eine solcher WG-Sitzungen gehabt, in der über gemeinsame Aktionen, Anschaffungen oder natürlich über WG-interne Probleme gesprochen wurde. Meist wurde lediglich zusammen gegessen, Wein getrunken und locker über dies und das geschwätzt. Es sei denn es gab wichtige Themen.
Aber dieses Mal – Manuel sei Dank – hatten wir ein richtiges Thema. Er räusperte sich: „Also, wir brauchen dringend ein Ordnungssystem für das Besteckfach der Spülmaschine!“ – Wow! – Wie hatten wir ohne leben können?! fragte ich mich. – Augenblicklich herrschte absolute Stille in unserer Küche. Kein Kauen, Schmatzen, Schlucken – kein Atemzug! Ein paar Zikaden in der Ferne. Sonst nichts!
Mein Mitbewohner Chris suchte verzweifelt meinen helfenden Blick. Denn wie sollte man adäquat auf so etwas reagieren? Gab es ein Verhaltenshandbuch für solche Situationen? Es gab doch Ratgeber für jeden Scheiß! Gab es bereits einen Ratgeber mit dem Titel: „Wie gehe ich mit meinem Mitbewohner um, der ein Ordnungssystem für das Besteckfach der Spülmaschine braucht“? Oder gab es eine Telefonhotline des psychologischen WG-Beratungsdienstes?
Chris’ Blick fand den meinen und wir prusteten zeitgleich los. Manuels Miene verfinsterte sich. „Ich meine das völlig ernst! Es ist jedes Mal totales Chaos im Besteckfach …!“ Aber weiter kam er nicht. Denn unser Lachen wuchs sich weiter aus und auch Bettina hatte schon schwer mit sich zu kämpfen. – Wer allerdings vermutet, Manuel hätte sich womöglich durch unsere Heiterkeit anstecken oder ablenken lassen und erkannte, wie absurd seine Äußerung auf einen normalen Menschen / WG-Bewohner wirken musste, der kannte Manuel schlecht. Denn jetzt wurde er erst so richtig fuchsig!
„Ja, ist schon klar, dass Ihr Euch über alles lustig macht, wenn man mal einen konstruktiven Verbesserungsvorschlag macht!“ Ich versuchte, gleichmäßig in den Bauch zu atmen, um mich zu beruhigen. – „Wo ist denn überhaupt das Problem?“ fragte Jan schließlich in die Stille. „Wo das Problem ist?! Das kann ich genau sagen!“ Chris hatte inzwischen einen knallroten Kopf und ich hatte ein bisschen Angst um ihn, dass er ersticken könnte, weil er seit geraumer Zeit in eine Brötchentüte atmete. „Ich ordne nämlich das Besteck beim Einräumen in die unterschiedlichen Fächer ein. Die großen Löffel kommen in das eine Fach, die kleinen in ein anderes und so auch die Messer, Gabeln und das sonstige Küchengerät wiederum in ein eigenes Fach!“ – Aha! Mir fehlte noch immer die Handlungs- und Bewusstseinsebene, auf der ich Manuel angemessen begegnen konnte.
Bettina hielt den Austausch am Leben: „Und warum machst du das?“ Ja, genau, das war doch mal eine gute Frage… „Warum?! – Weil ich dann beim Ausräumen alle Löffel, Messer und Gabeln mit einer Handbewegung direkt einsortieren kann!“
„Das hat man davon, wenn man Beamte Kinder machen lässt!“ dachte ich für mich. Jedenfalls dachte ich, dass ich es nur für mich gedacht hatte. Aber aufgrund der versammelten Blicke, die mich trafen, hatte ich es wohl laut genug für alle Beteiligten gedacht. Mit einem lauten Bums platzte die Brötchentüte vor Chris‘ Gesicht.
Dabei lag ich mit meiner Unterstellung vollkommen verkehrt. Denn Manuels Vater war kein Beamter. Er war sogar ein erstaunlich entspannter und lustiger Typ, den ich kurz bei Manuels Einzug kennengelernt hatte. Er entsprach also eher dem Gegenteil des Beamtenklischees und auch des Verhaltens seines Sohnes Manuel. – Aber mit meiner Fehlinterpretation saß ich einfach einem übergeordneten Irrtum auf. Schließlich hatten es die 68er ja schrecklich einfach gehabt. Was waren das für herrliche Bedingungen gewesen! Die gesellschaftlichen Verhältnisse konnten gar nicht geeigneter sein, um mit Krach und Getöse gegen das Spießertum anzugehen. Was war das für eine Vorlage für junge, ambitionierte Steinewerfer. Man muss einfach von einer extrem putschfreundlichen Gesamtsituation sprechen.
Aber wie sollte man sich gegenüber Revolutionären verhalten? Was machte man, wenn die Revolution schon gelutscht und Laios schon ermordet worden war? Die Generation nach der Revolution war dahingehend die tote Generation. Denn alle Brandsätze waren geschmissen, alle Molotowcocktails geraucht und alle Sitzblockaden längst abgesessen. Schließlich konnte man nur stehende Mauern umschubsen! Aber was passierte danach…?
Danach wurde gegen die Rebellion rebelliert! Was blieb unserem armen Manuel anderes übrig? Er sehnte sich nach Disziplin und Ordnung. Das war sein persönlicher Vatermord!
Währenddessen hatten sich die Blicke Chris zugewendet, der sichtlich geschockt auf die Reste seiner geplatzten Brötchentüte starrte. Er zitterte sogar regelrecht. Und dann warf er Manuel einen so finsteren Blick zu, wie ich es noch nie von ihm gesehen hatte: „Du verschissener Besteck-Nazi! Ist dir klar, dass mir deinetwegen fast die Fresse explodiert wäre…?! – Wegen so einem Scheiß!“
Schöner Einwand! So kann man auch mal ganz sauber und sachlich ein überflüssiges Thema beenden!
