abiaufsicht
Political Overcorrectness
Political Overcorrectness
In Zeiten, in den Hass und Häme ungezügelt das Internet verschmutzen und sachliche Auseinandersetzungen unmöglich machen, existiert am anderen Ende der Diskursskala die „Political Overcorrectness“. Denn inzwischen gibt es viele Menschen, die sich gar nicht mehr trauen, ihre Meinung öffentlich zu sagen, weil es ja irgendjemand da draußen falsch verstehen könnte. Und da die Lust auf Falschverstehen und Missinterpretieren immer größer und lauter wird, werden andere immer vorsichtiger.
Ich durfte gerade selber Zeuge und Opfer dieser Poltical Overcorrectness werden. Für die Jahresschrift unserer Schule hatte ich einen (schon vorher geschriebenen) Artikel eingereicht, einen ironischen Text über meine persönlichen Wachkomaerfahrungen während der Abituraufsicht mit dem poetischen Titel „die Langeweile des Todes„. Jetzt lagen die frischen Jahresschriften aus und es fehlte darin: mein Artikel. Okay, interessant…! Ich fragte daraufhin die zuständigen Kolleginnen, was denn zu meiner Zensur geführt hätte. Und, nun ja, wie soll ich es sagen, die Antwort war einigermaßen unbefriedigend. Viele „Womöglichs“, „Vielleichts“ und „unter Umständen“ reihten sich im Konjunktiv und versuchten, Bedenken über Interpretationsmöglichkeiten, die mein Text zuließ, zu formulieren. Kern der Bedenken war, dass womöglich einige Eltern den Eindruck gewinnen könnten, dass sich Lehrer:innen über ihre langweiligen Aufsichtspflichten beschweren würden, und dass das einige Eltern unter Umständen unangemessen finden könnten (Meckern auf hohem Niveau), da wir Lehrer:innen doch froh, zufrieden und dankbar ob unseres krisensicheren Jobs sein könnten/ sollten/ müssten oder so ähnlich und überhaupt!! Also, zumindest einzelne Eltern, also eventuell…!
Und um diesen eventuellen konjunktivistischen Elternreaktionen in vorauseilendstem Gehorsam vorzubeugen, um Anlass und Anstoß zu vermeiden, wurde auf meinen Artikel verzichten, quasi aus Sicherheitsgründen und der Logik folgend, dass eine möglichst glattgebügelte und oberflächliche Jahresschrift keine Angriffsfläche bietet. Na, bravo!
Stellt sich mir die Frage: Wer bestimmt letzten Endes den Diskurs? Die lauten dreisten, die sich ohnehin nicht den Mund verbieten lassen, oder die leisen vorsichtigen, die zwar die deutliche Mehrheit in der Gesellschaft vertreten, sich aber nicht mehr trauen, aus Angst vor einem möglichen Shitstorm, den Mund aufzumachen?
Und da auch dies ein Prozess ist, stellt sich die Anschluss- und Abschlussfrage: wohin führt diese Political Overcorrectness? Wird den lautesten und hässlichsten Stimmen der öffentliche Diskurs dadurch letztlich überlassen…?
Abiaufsicht oder: die Langeweile des Todes
Abiaufsicht oder: die Langeweile des Todes

Ich weiß, Langeweile muss nicht schlecht sein. Es gibt sie in der entspannenden, erholenden Variante, ein langweiliger Rosamunde Pilcher-Film mit einem langweiligen Weißwein. Große Langeweile kann dafür sorgen, dass die Wohnung geputzt oder gar Socken gebügelt werden und ein langweiliges Buch (z.B. Adalbert Stifters „Nachsommer“) kann hervorragend beim Einschlafen helfen!
Ich hatte gestern die Langeweile des Todes, mit anderen Worten: Abiaufsicht! Nicht dass eine normale Aufsicht bei Klausuren oder Klassenarbeiten besonders spannend wäre. Aber dabei kann man wenigstens lesen, vorbereiten oder korrigieren. Das alles ist bei der Abiaufsicht natürlich nicht erlaubt.
Wir sitzen in unserer Turnhalle, einem Ort von Spiel, Spaß und Bewegung, die Schüler:innen hochkonzentriert über ihren Abiaufgaben, ich atme. Nach einer Viertelstunde ist mein Kaffee ausgetrunken und mein Knoppers aufgeknoppert, mein Handlungsspielraum für die nächsten eineinhalb Stunden damit weitestgehend ausgeschöpft. Die Uhr an der Wand hat nicht einmal einen Sekundenzeiger, den ich aufmerksam verfolgen könnte. Und den Minutenzeiger zu beobachten… keine weitere Erklärung. Ich möchte Euch nicht langweilen!
Mir ist so langweilig, ich habe angefangen, meine Wohnung gedanklich zu putzen. Und alleine im Kopf zu prokrastinieren, ist gar nicht so leicht. Ich versuche mich mit einem Gedankenspaziergang und scheitere. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, vier Sekunden einatmen, fünf Sekunden Luft anhalten, acht Sekunden ausatmen – Pranayama! Mein Herzschlag wird immer langsamer, aber mein Puls so hart, dass ich Angst bekomme, es könnte die Abiturient:innen ablenken. Meine yogische Selbsterfahrung lehrt mich: Die Zeit vergeht auch nicht schneller, wenn man sehr langsam atmet. Verdammt! Ich höre völlig auf zu atmen. Mein Metabolismus ist so weit runtergefahren, der lebensnotwendige Restsauerstoff diffundiert über die Haut.
Mein Kollege, der vorne sitzt, fängt an zu weben. Zur Klarstellung: Handarbeiten sind natürlich nicht erlaubt! Mit Weben ist hier der Hospitalismus gemeint, der bei eingesperrten Pferden auftritt, indem sie ihren Kopf großen Schleifen bewegen, um sich ein wenig selbst zu spüren. Ein kleines bisschen Pferd sein, also Pony quasi oder Isländer….
„Bohh – wat is dat langweilig“, denke ich und erinnere mich an einen alten Sketch von Hape Kerkeling. Aber Rätselhefte sind auch nicht erlaubt. Oh Mann, kann einer mal mein Leben vorspulen!
Als ich am Abend mit meiner Schwester telefoniere, erfahre ich, dass in Norwegen Rentner:innen die Aufsicht in den Abiprüfungen übernehmen. Wie geil ist das denn…?! Die Leute, die am meisten in Langeweile geschult, ja, gestählt sind, für Aufsichten einzusetzen. Hochqualifiziert im Endstadium! Viele deutsche Rentner:innen fänden diesen Job wahrscheinlich auch total abwechslungsreich und spannend.
Hallo Kultusministerium Baden-Württemberg, kannst du mich hören…?! – Ich will auch Rentner:innen!!!
Ich sehe schon die Schlagzeile: