Nächstenliebe oder lieber nächster Spargel?
Nächstenliebe oder lieber nächster Spargel – oder: Deutscher Spargel müsste man sein!
So! Und jetzt können wir uns alle mal entspannt zurücklegen und uns auf unsere deutschen Schultern klopfen. Denn ja, wir gehören zu den Guten. Bescheiden sind wir zwar, aber hier und jetzt darf man das mal sagen: Wir gehören zu den Guten! Gerade erst haben wir 43 arme, unbekleidete, äh, unbegleitete Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln geholt, mit einem Sonderflieger! 43! Mehr als ein Dutzend!
Und jedem, der sagt, ja, aber andere Länder nehmen gar keine Kinder auf! sage ich: Im Ernst! Nur weil andere Länder noch größere Assis sind als wir, müssen wir uns nichts, aber auch gar nichts darauf einbilden! 43 mag zwar, mathematisch gesehen, größer als Null sein, moralisch ist aber immer noch verdammt nahe an Null.
Am meisten kotzt mich die Berichterstattung an. Frage: Wie oft darf man eigentlich über so wenig Kinder berichten…?! Gibt es da einen Koeffizienten vom Deutschen Ethikrat…? Wird ein gewisser Wert überschritten, wird die Nachricht wegen Heuchelei oder mangelnder Verhältnismäßigkeit eingestellt oder der Intendant wird abgesetzt oder dem Nachrichtensprecher explodiert der Kopf.
Als den deutschen Spargelbauern Ernteverluste drohten, wurden trotz Lockdown und geschlossener Grenzen 80000 Erntehelfer eingeflogen. Zurzeit kommen auf ein Flüchtlingskind 1860 Erntehelfer und ich befürchte, großartig wird sich diese Quote nicht verändern.
Bei aller Corona-bedingten Sensibilisierung für soziale und gesundheitliche Aspekte scheinen nach wie vor ökonomische Problemstellungen um ein Vielfaches relevanter zu sein als humanitäre. Die Scheinheiligkeit der deutschen Politik wird mal wieder überdeutlich. Warum lassen sich humanistische Werte, die die Aufnahme junger Flüchtender, die unter erbärmlichen Bedingungen in überfüllten Lagern hausen, fordern und christlich-abendländische Werte, die sich um die Rettung der Spargelsaison kümmern, nicht verbinden?
Ich habe nichts gegen Spargel. Bitte, sollen sie den Spargel retten und die Spargelbauern und die ganze Sauce-Hollandaise-Industrie dazu. Aber wie kann man gleichzeitig diese Flüchtlingskinder nicht retten?! Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass das „C“ in CDU oder CSU nicht für „Spargel“ steht!
Und so beendet Herr Boe diesen Bericht, frei nach Brecht: „Erst kommt das Spargelfressen, dann die Moral!“

